Kaum ist der Vertrag von Lissabon ratifiziert, wirft die europäische Schuldenkrise die Frage nach der Verfasstheit der Europäischen Union neu auf. Die Prämisse, eine Währungsunion sei ohne Haftungsunion und eine gemeinsame Fiskalpolitik möglich, hat sich als falsch erwiesen. Zusammenhalt und Krisenfestigkeit der Gemeinschaft stehen auf dem Prüfstand. Die EU befindet sich an einem Scheideweg. Einerseits hat die Schuldenkrise die Notwendigkeit verstärkter Koordination und Integration aufgezeigt. Andererseits schwindet der gesellschaftliche Rückhalt für eine erweiterte Haftungs- und Solidargemeinschaft. Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg und an den parlamentarischen Institutionen vorbei eine neue Dimension der europäischen Integration eingeläutet wird, die mit einer erheblichen Zentralisierung von Kompetenzen und Risiken verbunden ist.
Heute ist eine weitere Integration als ein «von oben» verordnetes Projekt der politischen Eliten aber nicht mehr möglich. Die Europäische Union konnte lange auf die mehr oder weniger stillschweigende Zustimmung der europäischen Nationen bauen. Das hat im Kern mit dem Versprechen einer europäischen Friedensunion zu tun, die das blutige Kapitel innereuropäischer Kriege beendet. Auch die Verbürgung von Demokratie, persönlicher Freizügigkeit und ökonomischem Wohlstand trug zur Akzeptanz der Europäischen Union bei. Inzwischen hat die Überschuldung etlicher Mitgliedsstaaten die gesamte EU in eine tiefe Krise gestürzt, in der die Vorteile der Währungsunion für viele nicht mehr erkennbar sind, während ihre Risiken in den Vordergrund treten. Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden.
Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die EU kann sich nicht nur über ihren ökonomischen «output» legitimieren, sondern muss sich auch an dem Maß demokratischer Selbstbestimmung, das sie ermöglicht, messen lassen. Es ist ja gerade so, dass nur über das Teilen von Souveränität die europäischen Nationen gemeinsam ihre Selbstbestimmung sichern können. Steht jede nur für sich, dann werden alle zum Spielball der Globalisierung und der neuen Kräfteverhältnisse, die diese mit sich bringt.
Bei aller Skepsis gegenüber einer weiteren Zentralisierung politischer Entscheidungen wächst auch die Erwartung an die EU, sich drängenden globalen Herausforderungen zu stellen. Es gibt ein verbreitetes Bewusstsein, dass Europa sich zusammenschließen muss, um als Gestaltungskraft handeln zu können. Entscheidend ist das «wie» einer vertieften europäischen Integration, insbesondere die Frage demokratischer Transparenz und Teilhabe. Eine EU, in der die Bürgerinnen und Bürger sich politisch enteignet fühlen, während sie zugleich in Haftung für gravierende Fehlentwicklungen genommen werden, wäre kein tragfähiges Modell.
Gerade in einer Zeit, in der die EU in eine Stufe politischer Integration übergeht, brauchen wir eine offene Debatte über die Finalität, die Strukturen und die politischen Aufgaben der Union. Es geht um mehr als um die Überwindung der Schuldenkrise: zur Debatte stehen grundsätzliche Richtungsfragen und eine neue Erzählung für Europa.
Europa der Solidarität und der Stärke
Mehr denn je sind Solidarität und Stärke zu Schlüsselbegriffen für die Zukunft der EU geworden. Beide sind eng miteinander verbunden. Ohne solidarischen Zusammenhalt gibt es keine innere und keine äußere Handlungsfähigkeit. So hat die Schuldenkrise ein Ausmaß an gegenseitiger Haftung notwendig gemacht, das zuvor als ausgeschlossen galt, heute aber ein Akt der Selbstbehauptung der europäischen Währungsunion ist.
Solidarität war und ist ein Motor der europäischen Integration. Sie ist verankert in den Verträgen – zum Beispiel im Prinzip des gegenseitigen Beistands oder in den Aussagen über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der europäischen Gemeinschaft. Materiell schlägt sich Solidarität bisher vor allem im Rahmen des Agrarfonds, Strukturfonds und Kohäsionsfonds nieder. Der Solidaritätsfonds sieht Hilfe für nicht selbst verschuldete Notsituationen und Naturkatastrophen vor.
Solidarität kann in verschiedenen Begründungen ihren Ursprung haben. Spontane, ereignisbezogene Solidarität bei Sicherheitsbedrohungen, humanitären Krisen oder Naturkatastrophen ist ein unbestrittener Wert innerhalb der EU, aber auch gegenüber Dritten. Dagegen ist Solidarität, die aus einem Bewusstsein gegenseitiger Verbundenheit geleistet wird, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, eher typisch für kleinere Gemeinschaften (wie die Familie). Sie stößt in einer heterogenen Gemeinschaft mit schwach ausgeprägter kollektiver Identität wie der Europäischen Union an ihre Grenzen. Solidarität als Prinzip gegenseitiger Rückversicherung ist dagegen eine wichtige Quelle für europäischen Zusammenhalt. Sie kommt insbesondere dort zur Geltung, wo es ein Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeit gibt. So beruht die interne Umverteilungspolitik der EU auf der Einsicht, dass die Reduzierung des Wohlstandsgefälles nicht nur zum Vorteil für die ärmeren, sondern auch für die wohlhabenderen Regionen ist.
In Solidarsystemen kommt es immer zu Reibungen zwischen Gebern und Nehmern. Ihr Erfolg basiert auf der Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe bei gleichzeitiger Selbstverpflichtung, das Seine zum Wohlergehen der Gemeinschaft beizutragen. Die Schuldenkrise ist das Ergebnis mangelnder Selbstverpflichtung auf das gemeinsame Wohl: hier überzogene Schuldenmacherei und gefälschte Statistiken, dort der nicht eingehaltene Stabilitätspakt. Solidargemeinschaften können auf Dauer nur funktionieren, wenn es Vorkehrungen gibt, unsolidarisches Verhalten zu vermeiden bzw. zu sanktionieren.
Die Schuldenkrise stellt die Solidarität zwischen den Mitgliedsländern und ihre Bereitschaft, füreinander einzustehen, auf eine harte Probe. Sie hat zugleich die Tatsache, dass die EU heute de facto schon eine Solidargemeinschaft ist, in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Nun gilt es zu entscheiden, ob wir diesen Weg weitergehen wollen. Wir möchten dafür werben.
Kooperative Stärke
Die Europäische Integration ist auch eine Antwort auf den schleichenden Verlust der Gestaltungsfähigkeit der europäischen Nationalstaaten in einer globalisierten Welt. Es geht um eine demokratisch legitimierte europäische Politik, die reale Wirkung gegenüber anderen globalen Akteuren entfalten kann.
Die Erhaltung und Weiterentwicklung der Werte, Institutionen und Ziele des europäischen Projekts kann nur gelingen, wenn die EU ihre globale Verantwortung wahrnimmt. Es kann nicht nur darum gehen, sich gegen die Auswirkungen des globalen Wandels zu verteidigen. Handlungsmaxime der EU muss sein, die Tauglichkeit des liberalen Rechtsstaats, der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft und der supranationalen Integration zur Bewältigung der großen Herausforderungen unserer Zeit unter Beweis zu stellen. Auf diese Weise kann sie auch am erfolgreichsten für ihr Modell werben.
Neue Schlüsselprojekte für die EU
Um neue Zustimmung zu gewinnen, braucht die EU neue Schlüsselprojekte, die eine neue Dynamik der Zusammenarbeit befördern. Im Folgenden einige Beispiele zu zentralen Feldern europäischer Politik:
Die Basis der künftigen Wertschöpfung Europas liegt in der Verbindung von ökologischer Innovation und sozialer Teilhabe.
Wirtschaftsunion und Green New Deal
Der Ausweg aus der Schuldenkrise ist eine Wirtschaftsunion. Ein langfristiger Krisenmechanismus muss dafür sorgen, dass Verschuldungskrisen in dieser Form nicht mehr möglich sind. Die haushalts- und wirtschaftspolitische Überwachung und Koordinierung der EU sollte unter Einbeziehung der Parlamente so gestärkt werden, dass unsolidarisches nationales Verhalten vermieden und sanktioniert werden kann. Zugleich kommt es jetzt darauf an, den Krisenländern Wachstumschancen zu eröffnen. Dafür bietet der Green New Deal auch für Europa die richtigen Ansätze. Die Basis der künftigen Wertschöpfung Europas liegt in der Verbindung von ökologischer Innovation und sozialer Teilhabe.
Für ein Europa des sozialen und ökologischen Fortschritts
Die Frage des sozialen und ökologischen Fortschritts sollte im Zentrum des europäischen Integrationsprozesses stehen. Wird die EU als Bedrohung für soziale Errungenschaften wahrgenommen, sinkt die Zustimmung weiter. Allein auf eine Instandsetzung des Sozialstaates auf nationaler Ebene zu setzen, ist angesichts eines gemeinsamen Marktes nicht praktikabel. Wie die sozialrechtliche und sozialpolitische Verantwortung zwischen mitgliedsstaatlicher und europäischer Ebene geteilt wird, kann nur in einer breiten demokratischen Debatte geklärt werden. Statt die Sozialsysteme zu vereinheitlichen, sollte auf Mindeststandards zurückgegriffen werden, etwa bei Löhnen oder sozialen Sicherungsleistungen. Soziale Ungleichheiten und unterschiedliche Versorgungsniveaus begründen weiteren Handlungsbedarf, etwa in der Armutsbekämpfung, der Gesundheitsversorgung und den Pflegesystemen. Angesichts der demographischen Entwicklung in Europa gilt es, soziale (Ab)Sicherung unter der Prämisse von Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit zu diskutieren. Die EU sollte ihre Rolle als Agentin für Chancengleichheit und Gleichberechtigung stärker wahrnehmen.
Für eine nachhaltige europäische Klima- und Energiepolitik und ein Europa der Erneuerbaren Energien
Die Europäische Union sollte die großen klima- und energiepolitischen Herausforderungen unserer Zeit als Chance begreifen. Denn eine nachhaltige europäische Klima- und Energiepolitik, speziell ein Europa der 100% Erneuerbaren Energien, würde nicht nur für eine bezahlbare, verlässliche und umweltverträgliche europäische Energieversorgung sorgen, sie könnte auch zu einem neuen Identifikationsprojekt für Europa werden und der Europäischen Union zu neuer politischer und wirtschaftlicher Dynamik verhelfen. Dies ist die Idee einer Europäischen Gemeinschaft der Erneuerbaren Energien (ERENE). Dahinter steht das Leitbild einer nachhaltigen, sicheren und bezahlbaren Energieversorgung, deren drei Eckpfeiler Erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energieeinsparung sind.
Für eine zukunftsgerichtete ökologisch und sozial nachhaltige Agrarpolitik
Eine ökologisch und sozial nachhaltige Agrarpolitik, die die Vielfalt der Landwirtschaft in den einzelnen Mitgliedsländern bewahrt, könnte globale Ausstrahlung entwickeln. Eine zukunftsorientierte Gemeinsame Agrarpolitik muss ein ganzes Bündel von Zielen gleichzeitig verfolgen: Ernährungssicherheit, qualitativ hochwertige Nahrungsmittel, schonende Nutzung von Ressourcen, Klimaschutz und Erhalt der biologischen Vielfalt, lebenswerte ländliche Räume sowie hohe Standards für Tierschutz. Diese Ziele kann die EU nicht auf Kosten ihrer Handelspartner in anderen Regionen verfolgen. Wir brauchen deshalb eine faire Außenhandels- und Kooperationspolitik, die den Entwicklungsländern ermöglicht, die Versorgung ihrer Bevölkerung sicherzustellen und ihre Ökosysteme zu schützen.
Für eine «Agenda der Öffnung» in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
Zum Friedensprojekt Europa gehört das konsequente Eintreten für Menschenrechte und für eine atomwaffenfreie Welt. Die EU kann als Staatenbund neuen Typs, als gelebtes Beispiel für überstaatliche Zusammenarbeit und geteilte Souveränität, wesentlich dazu beitragen, dass sich die Welt im Geist internationaler Zusammenarbeit entwickelt. Es geht um eine Weltordnungspolitik, von der alle profitieren, weil sie gleiche Rechte und geteilte Verantwortung gewährleistet.
Europa muss verstärkt internationale Verantwortung übernehmen. Dazu braucht es eine stärkere Koordination der Außenpolitik und eine aktive Rolle des Europäischen Auswärtigen Diensts (EAD). Nur dann kann Europa den internationalen Herausforderungen erfolgreich begegnen. Dazu gehört die weltweite Förderung der Demokratie, die Eindämmung des Klimawandels, die vorbeugende Verhinderung bewaffneter Konflikte und der Umgang mit weltweiten Flüchtlingsströmen ebenso wie die demokratische Stabilisierung unserer Nachbarregionen.
Europa muss gewillt und in der Lage sein, auf Krisen und Konflikte, vor allem im europäischen Umfeld, zu reagieren und dafür die entsprechenden politischen und militärischen Strukturen zu entwickeln.
Für eine Neuausrichtung der Europäischen Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik
Die Europäische Union muss ihre Beziehungen zu den Nachbarstaaten neu ausrichten. Zum einen muss sie ein klares und glaubwürdiges Signal an all jene Nachbarn senden, die eine reelle Chance haben, eines Tages in die EU aufgenommen zu werden, sofern sie die Beitrittskriterien erfüllen. Beitrittszusagen, die permanent in Frage gestellt werden (wie im Fall der Türkei) vergiften mit der Zeit die Beziehungen und untergraben die Glaubwürdigkeit der Union. Wir plädieren dafür, dass die EU ihr Versprechen erneuert, dass alle europäischen Staaten Mitglied der Union werden können, sofern sie die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen. Dies setzt allerdings voraus, dass die EU ihre Strukturen und Entscheidungsprozesse so weiterentwickelt, dass sie mit einer wachsenden Zahl heterogener Mitgliedsstaaten umgehen kann, ohne an Handlungsfähigkeit einzubüßen.
Gleichzeitig sollte sie ihre Nachbarschaftspolitik konsequenter als bisher an ihren Werten ausrichten. In den Gesellschaften, deren politischer Kurs strittig und deren politische Kultur von europäischen Standards noch weit entfernt ist, sollte sie mit Nachdruck die demokratische Zivilgesellschaft und eine pluralistische Öffentlichkeit unterstützen und durch liberalisierte Visaregelungen insbesondere den grenzüberschreitenden Kontakt junger Menschen fördern. Es geht darum, flexible Instrumente zu entwickeln, die Nachbarstaaten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung eine realistische Perspektive für zukünftige Integrationsschritte aufzeigen.
Europäischer Mehrwert
Kriterium für die Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene muss der gemeinsame Nutzen und ein Zugewinn an Handlungsmöglichkeiten sein. Wo dies nicht der Fall ist, sollten zugunsten der Vielfalt Europas die Kompetenzen auf der lokalen oder nationalen Ebene angesiedelt bleiben. Es geht darum, das Mehrebenensystem und das Prinzip der Subsidiarität beim Wort zu nehmen und die Vorzüge nicht nur der Vergemeinschaftung, sondern auch von lokalem und nationalem Handeln zu definieren.
Stärkung der europäischen Demokratie
Mehr Europa geht nur Hand in Hand mit mehr Demokratie. Fortschritte im Integrationsprozess sind also nur mit einer Stärkung der europäischen Demokratie denkbar. Wir brauchen eine «lebendige Demokratie», in der die Mitbestimmungs- und Kontrollrechte der demokratischen Institutionen, insbesondere des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente, gestärkt und die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger erweitert sind. Konkret bedeutet dies:
- das Europäische Parlament soll durch ein Initiativrecht gestärkt werden;
- die Rechte der Minderheitsfraktionen und einzelner Abgeordneten sollen auch in den nationalen Parlamenten gestärkt werden;
- die Besetzung der Kommission als Organ der europäischen Exekutive soll an die Mehrheitsverhältnisse des Europäischen Parlamentes gebunden sein;
- durch transnationale Listen soll der Wahlkampf zum Europäischen Parlament europäisiert werden; der Status und damit die Entwicklungsbedingungen der europäischen Parteien sollen verbessert werden;
- die Bereiche, in denen europäische Bürgerinitiativen zugelassen sind, sollen ausgeweitet, ihre Bindungswirkung soll gestärkt werden.
Bei all dem ist zu beachten, dass europäische Demokratie und die Demokratie in den europäischen Mitgliedsländern untrennbar miteinander verknüpft sind. Die EU kann ihren demokratischen Charakter nur im Zusammenspiel mit den demokratischen Institutionen ihrer Mitgliedsstaaten verwirklichen. In diesem Sinne ist auch die zweigliedrige Legitimationsstruktur der EU zu verstehen. Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass die EU verpflichtet ist, als Kontrollinstanz zu wirken. Sie muss undemokratischen Entwicklungen in den Mitgliedsländern, wie sie derzeit zum Beispiel in Ungarn zu beobachten sind, entgegentreten und eine europaweite Öffentlichkeit zu diesen Fragen herstellen. Gleichzeitig muss die EU ihre Rolle als Garant für Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe aller auch gegenüber den Mitgliedsstaaten wahrnehmen. Das Europäische Parlament und die Kommission haben eine Wächterrolle, wie weit europäische Richtlinien in die Praxis umgesetzt werden.
Europäischer Konvent
Wenn «Mehr Europa» Hand in Hand mit «Mehr Demokratie» gehen muss, brauchen wir in absehbarer Zeit einen neuen Europäischen Konvent, der die unterschiedlichen Vorstellungen zur Zukunft der EU bündelt und die anstehenden Fragen gemeinschaftlich beantwortet.
Zwar scheint es angesichts des gescheiterten ersten Konventes und der derzeitigen Renationalisierungstendenzen in einigen Mitgliedsländern fast vermessen, an einen neuen Europäischen Konvent zu denken. Doch das derzeit praktizierte «Durchregieren» der Exekutiven vorbei an Parlamenten und Öffentlichkeit kann keine Dauerlösung sein. Ein Konvent kann die Vorkehrungen, die jetzt in Zuge des Krisenmanagements ad hoc entschieden wurden, in eine systematische Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik einbetten. Er würde zudem die Chance eröffnen, die nationalen Diskurse, die im Zuge der Krise auseinander gedriftet sind, in einem gemeinsamen Diskurs zu bündeln und eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Neben der Zukunft der Wirtschafts- und Fiskalunion muss es auch um die Zukunft eines demokratischen, sozialen und ökologischen Europas gehen.
Ein Konvent kann mit Beteiligung der Parlamente und Zivilgesellschaften gemeinsame Perspektiven für die nächsten Schritte der europäischen Integration ausarbeiten. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass unter den derzeitigen Bedingungen weitere Integrationsschritte nicht einfach durchzusetzen sein werden. Doch sieht das ordentliche Änderungsverfahren (nach Artikel 48 EUV) für die grundlegenden Fragen des Zusammenspiels der Institutionen ohnehin die Einberufung eines Konventes und die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten und deren Parlamente vor.
Das Spannungsverhältnis von Handlungsfähigkeit und demokratischer Legitimation
Solidarität und Stärke treffen im Kern das Spannungsverhältnis zwischen Handlungsfähigkeit und Legitimität in der EU. Dieses Spannungsverhältnis ist nie ganz auflösbar. Wir müssen es deshalb offen diskutieren.
Wenn die Europäische Union Gestaltungskraft haben soll, muss sie ihr Modell der Integration konsequent weiterentwickeln. Dazu wird sie voraussichtlich vom Prinzip der Einstimmigkeit in weiteren Politikfeldern, etwa der Außenund Sicherheitspolitik, Abschied nehmen müssen. Dies würde den Kern nationaler Souveränität treffen und setzt eine erweiterte demokratische Legitimation zwingend voraus.
Auch Erweiterung und Vertiefung der EU stehen in einem Spannungsverhältnis. Weitere Integrationsschritte nach innen haben Auswirkungen auf die Erweiterungspolitik und umgekehrt. Wenn wir weitere Integrationsschritte machen und die Zusammenarbeit in der EU vertiefen, werden es die Nachbarländer der EU noch schwerer haben, beitreten zu können. Erweitern wir die EU dagegen zu einer EU der 35, wird die innere Handlungsfähigkeit nur durch differenzierte Integration und einem Mehr an Mehrheitsentscheiden möglich sein, was wiederum legitimatorische Fragen aufwirft.
Differenzierte Integration: eine Möglichkeit mit Risiken
Die differenzierte Integration, die als Option für neue Dynamik im Integrationsprozess diskutiert wird, veranschaulicht das Dilemma zwischen Handlungsfähigkeit und Legitimität bzw. zwischen Handlungsfähigkeit und Solidarität.
Auf der einen Seite würde die themengebundene vertiefte Zusammenarbeit mit nur einem Teil der Mitgliedsstaaten Reformprozesse in einer EU der 27 erheblich vereinfachen oder überhaupt erst ermöglichen. Diese Möglichkeit ist nicht neu und wird schon praktiziert. Schengen und der Euroraum sind Beispiele für eine solche verstärkte Zusammenarbeit, an dem sich zunächst nur ein Teil der Mitgliedsstaaten beteiligen.
Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen interessierten Mitgliedsstaaten ist durchaus eine Option, um die europäische Integration voranzutreiben, so etwa eine Gemeinschaft der Erneuerbaren Energien (ERENE), eine vertiefte Wirtschaftsunion zwischen einer Gruppe von Mitgliedsstaaten oder der sukzessive Aufbau von Strukturen gemeinsamer Friedenssicherung und Konfliktbewältigung.
Der Ausbau von Formen differenzierter Zusammenarbeit kann die Möglichkeit bieten, konstruktiv mit der unterschiedlichen Bereitschaft und Fähigkeit zu vertiefter Integration umzugehen. Diese Strategie erscheint umso plausibler, je größer und heterogener die Europäische Union wird. Staaten, die sich an sektoralen Gemeinschaftsprojekten nicht beteiligen wollen, können sich heraushalten, ohne jeden Integrationsfortschritt zu blockieren. Diese Methode erscheint vor allem dann attraktiv, wenn man sie mit der Hoffnung paart, dass solche Zusammenschlüsse eine wachsende Anziehungskraft auf außenstehende Mitgliedsstaaten ausüben und dort Reformprozesse auslösen, die einen späteren Beitritt ermöglichen. Das ist die Idee eines «Europa der konzentrischen Kreise».
Gleichzeitig birgt dieses Modell die Gefahr, dass ein zu hohes Maß an differenzierter Integration den Zusammenhalt der Union gefährdet. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten darf zumindest nicht die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa vertiefen oder gar in einen Dualismus zwischen einem Kerneuropa und einer Peripherie münden. Zudem würde eine stark ausdifferenzierte EU mit vielen themengebundenen Suborganisationen noch komplexer und schwerer verständlich werden. Auch müssen die Auswirkungen auf eine gemeinsame Unionsbürgerschaft mit gleichen Rechten und Chancen ins Kalkül gezogen werden.
Die differenzierte Integration sollte deshalb nur wohldosiert eingesetzt werden. Dabei müsste die vertiefte Zusammenarbeit Vorrang vor intergouvernementaler Koordinierung haben. Eine Vielzahl von Parallelstrukturen außerhalb der parlamentarischen Kontrolle und Mitbestimmung wäre ein Rückschritt für die Europäische Integration.
Um wieder Schwung in den Prozess der europäischen Einigung zu bringen, sollte sich die EU auf eine überschaubare Zahl von Schlüsselprojekten konzentrieren, an denen der Mehrwert europäischer Zusammenarbeit deutlich wird.
Solidarität und Stärke: Leitmotiv für die Zukunft Europas
Unabhängig davon, welche Vision wir für die EU verfolgen – ein konföderales Europa oder der große Sprung nach vorn zu den Vereinigten Staaten von Europa – ihr Erfolg wird wesentlich davon abhängen, ob die Europäerinnen und Europäer den Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU vertrauen. Transparenz, demokratische Kontrolle, Gewaltenteilung und Offenheit für die Beteiligung der europäischen Bürgerschaft sind dafür ebenso unerlässlich wie die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit.
Um wieder Schwung in den Prozess der europäischen Einigung zu bringen, sollte sich die EU auf Schlüsselprojekte konzentrieren, an denen der Mehrwert europäischer Zusammenarbeit deutlich wird. Solidarität und Stärke könnten dabei als Leitmotiv dienen, um wieder Kurs auf ein vereinigtes Europa zu nehmen.
Solidarität und Stärke: Zur Zukunft der EU | |
Herausgeber/in | |
Erscheinungsort | |
Erscheinungsdatum | 19. 2011 |
Seiten | |
ISBN | |
Bereitstellungs- pauschale |
kostenlos |
Dossier
Zur Zukunft der EU
Die Schuldenkrise droht in eine Legitimitätskrise der EU zu münden. Die Antwort darauf muss heute vor allem in einer Stärkung der europäischen Demokratie liegen. Die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, die in der Studie "Solidarität und Stärke" erarbeitet wurden, werden im Dossier genauso wie diejenigen der Expert/innenkommission, vorgestellt.